Ist der Mensch zum Arbeiten gemacht

 

Ist der Mensch zum Arbeiten gemacht?

Teil 1: Evolution

Manche klagen, weil sie ihren Job als Zumutung empfinden. Andere klagen, weil sie keine Arbeit haben. Eine gute Gelegenheit also, sich dumm zu stellen und zu fragen: Ist der Mensch überhaupt zum Arbeiten gemacht? Oder wäre er besser dran ohne Arbeit?

Als erstes frage ich einen Evolutionsbiologen: Dr. Josef H. Reichholf, emeritierter Honorarprofessor der TU München und ehemaliges Präsidiumsmitglied des WWF Deutschland. Zur Erinnerung: Evolutionsbiologen erforschen die Entwicklung des Menschen über viele Millionen Jahre, vornehmlich (nicht ausschließlich) anhand von Auswahlkriterien der Natur. Wer viel Nahrung beschaffen kann und erfolgreichen Nachwuchs zeugt, ist evolutionsbiologisch im Vorteil.

Wenn man verstehen will, was der Mensch ist, vergleicht man ihn erst einmal mit Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans. Sie sind unsere nächsten Verwandten. Im Gegensatz zu diesen aber gehen wir seit etwa fünf Millionen Jahren aufrecht. Denn der zweibeinige Gang ist für das Leben in der Savanne (aus der wir kommen) viel geeigneter als der Gang auf allen Vieren. So kann der Mensch lange Strecken mit den Viehherden ziehen. Viele tausend Generationen dauerte es, bis der aufrechte Gang optimiert war: „Beckenform und Beinlänge passten, der Fuß ließ sich gut über die Ferse abrollen. Die Muskulatur war kräftig genug geworden, um schnelle Sprints und anhaltende Dauerläufe zu ermöglichen“, so Reichholf.

Durch den aufrechten Gang hatte der Mensch im Gegensatz zum Schimpansen dauerhaft die Hände frei – vielleicht ein erster Hinweis auf Arbeit. Mit den Händen können wir schneidern, schustern, tischlern, Essen zubereiten, Bücher drucken, Schulen bauen und Artikel schreiben.

Natürlich bauen auch Vögel Nester, Putzfische putzen und Affen benutzen Werkzeuge um Termiten aus Baumstämmen zu pulen. Aber sie machen es unmittelbar für sich, ihren Nachwuchs und die Gruppe. Sie leben von der Hand in den Mund und zeigen darüber hinaus keinerlei Neigung, etwas zu produzieren, um eigene Ideen zu verwirklichen, weil sie etwas für richtig halten oder um einen Überschuss zu erwirtschaften. Ein Mensch dagegen kann viel mehr: Er kann Lieder schreiben, um seine Gefühle auszudrücken. Er kann Instrumente bauen, die er für besser hält als andere. Und er kann neue Weinstöcke pflanzen, wenn ein Sturm die Ernte beschädigt hat.

Folgen wir der Evolutionsbiologie weiter. Der aufrechte Gang macht nicht nur unsere Hände frei für die Arbeit. Er gibt uns zudem einen besseren Überblick. Aufrecht können wir nach Nahrung schauen. Unsere Vorfahren konnten die Geier über einem Großtierkadaver kreisen sehen und mit anderen Menschen zusammen hinlaufen, um den Löwen die Beute abzuluchsen. Denn Löwen müssen sich nach der Jagd erst 15 Minuten erholen. So kann ihnen der Mensch trotz ihres schnellen Spurts überlegen sein. Der Löwe dagegen könnte den Geierflug nicht einmal deuten.

Durch gute Lauffähigkeit und mehr Überblick kann der Mensch konstant für Nahrung sorgen. Die aber ist notwendig, um Nachwuchs mit recht großen Gehirnen zur Welt zu bringen. Denn Gehirne verbrauchen Energie. Ihre Funktion ist (nach dem Vogelflug) die energie-intensivste Tätigkeit von allem, was Lebewesen tun. Nur mit ausreichend Fleischnahrung ist daher die Entwicklung von großen Gehirnen möglich. Mit einer Einschränkung: Es gibt heute einige gezüchtete Pflanzen mit sehr hohem Eiweißgehalt. Der Urmensch in der Savanne dagegen hätte sich ohne Fleisch weit weniger gut fortpflanzen können. Die Körper der Mütter hätten zu wenig Proteine in Reserve gehabt. (Aus evolutionsbiologischer Sicht also hat die Metzgerin durchaus Recht, wenn sie Dirk Nowitzki eine Scheibe Wurst gibt, damit er groß und stark wird.)

Um konstant für gute Nahrung zu sorgen, waren unsere Vorfahren im Schnitt acht Stunden täglich in Bewegung. Dank Landwirtschaft und Lebensmittelhandel ist diese Zeit heute auf ein Minimum geschrumpft. Um über die bloße Nahrungsbeschaffung hinaus zu arbeiten, sind wir heute wieder acht Stunden täglich unterwegs. Wir fahren zur Agentur nach Hamburg, zum Meeting nach München und zum Kunden nach Leipzig. Selbst in seiner Freizeit frönt der Mensch der Mobilität: Er wandert in den Alpen, fährt zum Fußball nach Dortmund und zum Tauchen auf die Malediven.

Zurück zu dem, was uns vom Primaten unterscheidet: Der Mensch hat kein Fell, das ihn im Winter wärmt. Unsere Kleidung ist praktischer, da man sie leichter an- und ausziehen kann. Das allerdings setzt zumindest in der heutigen Welt voraus, dass es wenigstens Schneider gibt, aber auch Stofflieferanten, Kurzwarenhersteller und Nähmaschinenentwickler. So können wir uns auch ohne Fell warm halten.

Und das ist für das Thema Arbeit entscheidend: Denn statt Fell haben wir Millionen winziger Schweißdrüsen auf der Haut. Dadurch können wir schnell viel Wärme abgeben. Je mehr Wärme wir aber abgeben können, umso härter können wir arbeiten. Zum Glück! Würde ein Gorilla einen ganzen Tag lang einen Wohnzimmerschrank aufbauen – er würde verglühen. Auch die Dichte des Fells unserer Vorfahren musste sich auf dünne Haarreste an wenigen Stellen des Körpers reduzieren. Denn Schweiß würde dichtes Haar verkleben und die Kühlwirkung ginge verloren.

So kommt es, dass kein Säugetier der Welt annähernd so arbeits- und leistungsfähig ist wie der Mensch. Unsere Nacktheit ist zwei Millionen Jahre alt und macht’s möglich.