Ist der Mensch zum Arbeiten gemacht?
Teil 6: Eine philosophische Antwort
Stress und Muße trafen bereits im 4. Jahrhundert vor Christus auf dem Marktplatz von Korinth aufeinander. Alexander der Große ist dabei, mit seinen Feldzügen aus dem kleinen Makedonien ein riesiges Reich zu schaffen. Er zerschlägt den Gordischen Knoten, zieht in den Krieg gegen die Perser und besiegt die bis dahin größte Territorialmacht der Erde. Alexander ist reich, mächtig, grausam, süchtig nach Erfolg und Alkohol und nicht ausschließlich dem anderen Geschlecht zugetan.
Die Legende will, dass der Feldherr auf Diogenes von Sinope trifft, einen philosophierenden Bürgerschreck und erklärten Feind angehäufter Reichtümer. Für ihn erzeugt Besitz nur Bedürfnisse, die man andernfalls gar nicht hätte. Diese neuen, unnatürlichen Bedürfnisse müsse man ständig befriedigen. Das mache unfrei, und daher sei der Einfluss des Wohlstands auf die eigene Glückseligkeit völlig überschätzt.
Diogenes zelebriert das einfache Leben in der Öffentlichkeit: Er besitzt nur ein Gewand, verrichtet seine Notdurft vor den Augen seiner Mitmenschen und wohnt in einer Tonne - womit er als prominentester Downshifter der Antike gelten darf.
Alexander zeigt sich beeindruckt von Diogenes' Performance-Philosophie. Er bietet dem Tonnenbewohner an, was auch immer er haben will. Dieser antwortet: "Ich habe nur einen Wunsch: Geh mir aus der Sonne." Das, so die Legende weiter, beeindruckt den König so sehr, dass er sich wünscht zu sein wie der Bettelphilosoph. Andere Versionen besagen, Alexander habe die Welt besiegt, Diogenes aber habe Alexander besiegt.
Auf meiner Suche nach Antworten auf die Frage Ist der Mensch zum Arbeiten gemacht? besuche ich heute eine Nachfolgerin Diogenes'. Ursula Wolf ist Philosophieprofessorin und Spezialistin für antike Philosophie an der Universität Mannheim. Vor zwanzig Jahren habe ich in Berlin bei ihr studiert. Sie antwortet, wie es sich für eine Philosophin gehört: "Wie ist Ihre Frage gemeint? Wer hat den Menschen gemacht?" Und dann entspinnt sich folgender Dialog.
Glaubitz: Ist der Mensch zum Arbeiten gemacht - das ist nicht wörtlich gemeint. Es ist nur ein Aufhänger, um das Thema Arbeit von verschiedenen Perspektiven aus zu beleuchten.
Wolf: Ich habe das schon vermutet. Versuchen wir also eine Formulierung, die keinen Schöpfer voraussetzt: Ist die Natur des Menschen so beschaffen, dass zu ihr wesentlich das Arbeiten gehört? Und was bedeutet arbeiten? Solange das nicht klar definiert und gegen Ähnliches abgegrenzt ist, können wir die Frage nicht wirklich stellen und noch weniger beantworten.
Glaubitz: Was schlagen Sie vor?
Wolf: Schauen wir in philosophischen Lexika nach. Dort steht, dass der Arbeitsbegriff zwei Komponenten hat. Erstens: Arbeit ist das menschliche Tun, das mit der Produktion von materiellen Gütern für die Lebenserhaltung befasst ist. Der zweite Aspekt ist der biblische, wonach wir im Schweiße unseres Angesichts arbeiten sollen. Wenn wir Arbeit so bestimmen, ist die Antwort auf Ihre Frage eindeutig.
Glaubitz: Eindeutig negativ?
Wolf: Im antiken Griechenland ist Arbeit etwas Niederes. Sie trägt ihren Sinn nicht in sich selbst. Vielmehr hindert sie den Menschen an seinen spezifisch menschlichen Tätigkeiten. Diese sind aber erst möglich, wenn die materiellen Lebensbedingungen gesichert sind.
Glaubitz: Geht der Mensch also erst mal arbeiten, um dann nicht mehr arbeiten zu müssen?
Wolf: Für die griechischen Philosophen sind die Aufgaben, für die der Mensch "gemacht" ist: Kontemplation, Wissenschaft, Politik. Oder anders: Nachdenken und philosophische Abhandlungen veröffentlichen. Der freie Mann besitzt große Ländereien, auf denen Tagelöhner und Sklaven die Arbeit verrichten.
Glaubitz: Zum Glück ist die Sklaverei abgeschafft.
Wolf: Aber die Industrialisierung zwang die, die kein Kapital, keine Produktionsmittel besaßen, sich zu Niedriglöhnen mit überlangen Arbeitszeiten abzumühen. Sie erzeugten nicht Dinge, die einen Gebrauchswert haben, sondern, mit Marx geredet, "Mehrwert" - abstrakten Warenwert, der nur der Kapitalvermehrung dient. Das entfremdet den Arbeiter von seiner Tätigkeit.
Glaubitz: Das Gegenstück zum antiken Philosophen wäre dann der Kapitalist, der so viel Geld akkumuliert hat, dass er nicht arbeiten muss.
Wolf: Seine Kapitalvermehrung ist Selbstzweck. Aristoteles aber sagt: Reichtum ist nur als Mittel sinnvoll, niemals als Ziel. Ein Lebensziel muss etwas Begrenztes sein, sonst führt es ins Leere. Auch für die Kapitalisten hat ihr Tun als Individuen keinen Sinn.
Glaubitz: Passt Aristoteles' Einschätzung noch zur heutigen Zeit?
Wolf: Vielleicht kann man sagen: Nicht jeder einzelne, sondern die Spezies Mensch muss sich um die Sicherung des Lebensnotwendigen bemühen. So gesehen ist Arbeit allerdings nichts spezifisch Menschliches. Wir sprechen auch von Arbeiterinnen bei den Bienen, von fleißigen Ameisen und so weiter.
Glaubitz: In der stressigen Arbeit also gleicht der Mensch dem Tier, und in der Muße ist er ganz Mensch?
Wolf: Ein verhaltenstheoretisches Modell wie bei Konrad Lorenz sieht das anders: Hier haben Lebewesen eine Aktionsenergie, die sie dazu drängt, sich in Auseinandersetzung mit der Umwelt zu äußern. Dann erscheint das Ganze natürlich in einem anderen Licht. Arbeit, Anstrengung und - ja, auch Stress können wir als erfüllend empfinden.
Glaubitz: Heute hat sich Arbeit längst verselbstständigt als lebenslanges Stressmoment.
Wolf: Man müsste jetzt natürlich überlegen, wie sich die Arbeit verändert. Die Produktion des Lebensnotwendigen wird weitgehend durch Maschinen erledigt. Hat sich dadurch an der Entfremdung etwas geändert, oder arbeitet der Mensch immer noch nur des Geldes wegen? Erfährt er dabei, dass die Verwirklichung seiner eigenen Fähigkeiten sinnvoll sein kann? Oder haben am Ende die griechischen Philosophen letztlich auch nur einen "Gebrauchswert" für die Gesellschaft produziert? Das wäre ein Thema zum Weiterdenken.
Glaubitz: Dankeschön. Ich denke weiter nach.