Die dunklen Linien der Berufsfindung

Die dunklen Linien der Berufsfindung

Unter der Entscheidung für einen Beruf liegen dunkle Linien der Familiengeschichte. Diese müssen nicht offensichtlich sein und keine expliziten Aufträge, wie beispielsweise, dass der Vater eine Rechtsanwaltskanzlei hat und sich von Sohnemann wünscht, dass er sie weiter führt. Es gibt auch tiefer Liegendes. Mit einigen Beispielen möchte ich den Blick dafür schärfen.

Eine häufig auftretende Komponente ist der ungelebte Berufswunsch der Mutter. Eine Mutter wollte beispielsweise Ärztin werden. Es ging aber zu DDR-Zeiten nicht, weil die Familie nicht in der Partei war und ein Studienplatz in Medizin daher in weiter Ferne. Diesen ungelebten Berufswunsch manövriert die Mutter später in ihre älteste Tochter. Die wird Ärztin und fragt sich mit 35 Jahren: „Was mache ich hier eigentlich? Lebe ich mein Leben – oder das meiner Mutter?“

Eine typische Mutter-Sohn-Linie dagegen könnte so aussehen: Eine Ehe geht in die Brüche. Fortan benutzt die Mutter ihren einzigen Sohn als Partnerersatz. Mit ihm verbündet sie sich gegen den Vater und führt einen ewigen Kampf vor Gericht. Der Auftrag wird nie ausgesprochen, und ist dennoch klar: Der Sohn wird Rechtsanwalt. Sobald er versteht, wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist, wendet er sich mit Abscheu von der Juristerei ab. Er fühlt sich missbraucht (nicht sexuell), vor allem in seiner erzwungenen Ablehnung des Vaters.

Auch ein Schuldgefühl oder eine Schande der Familie kann unter einer Berufsentscheidung liegen. Eine Frau kommt zu mir, die Judaistik studiert hat. Ich frage sie, ob sie aus einer jüdischen Familie kommt. „Nein“, sagt sie, „aus einer Nazifamilie.“ Die Eltern sind nach dem Krieg nicht schlau geworden und engagieren sich stattdessen bei der NPD. Nicht als Kader, aber als Zuarbeiter und Hausmeister für ein entsprechendes „Zentrum“. Die Tochter „glaubt“, das irgendwie ausgleichen zu müssen.

Ein etwa 40jähriger ist von Beruf Jugendamtsleiter. Wie er dahin gekommen ist, kann er sich selbst nicht erklären. Es stellt sich aber folgendes heraus: Der Mann hat einen Bruder, der verschollen ist. Es ist unklar, ob es sich um einen Selbstmord, einen Unfall oder vielleicht auch um die Abschiebung eines Kuckuckskindes handelt. Was wirklich passiert ist, ist nicht herauszubekommen, sondern ein Familiengeheimnis - so wie es in jeder Familie Geheimnisse gibt. Denkbar ist, dass unter den Entscheidungen, die der Mann im Laufe seiner Karriere fällt, eine Suchlinie liegt: Er sucht seinen verschollenen Bruder. Das ist kein bewusster Prozess, sondern ein Sog.

Bei den dunklen Linien geht es nicht um das Offensichtliche, nicht um oberflächliche Motive,  wie beispielsweise, dass wir irgendwo gehört haben, dieser oder jener Beruf „hätte Zukunft“. Es geht um die Geschichte unter der Geschichte. Schauen wir uns folgenden Fall an: Ein Vater wollte immer einen Sohn. Bei jedem seiner fünf Kinder hofft er inständig auf männlichen Nachwuchs. Aber es kommen nur Töchter. Bei der fünften Geburt ist klar: Das war seine letzte Chance, es wird keinen Sohn mehr geben. Die jüngste Tochter muss nun den (nicht ausgesprochenen) Wunsch erfüllen und wenigstens Soldatin werden. Wogegen prinzipiell nichts einzuwenden ist. Aber es ist eine Entscheidung, die sie nur auf der Oberfläche selbst gefällt hat.

Ein Motiv kann auch Generationen überspringen: Ein Urgroßvater wollte nach Ostpreußen (wo die großen Landgüter im deutschen Kaiserreich lagen), um dort Milchvieh zu züchten. Seine Frau lehnt ab, und die Familie bleibt im Rheinland. Der Urenkel weiß nicht viel von dieser Sache und macht zunächst eine Ausbildung zum Zahntechniker. Doch je älter er wird, desto mehr zieht es ihn in die Landwirtschaft. Mit Mitte 30 studiert er noch einmal Agrarwissenschaft. Das zwiespältige Gefühl bleibt: „Lebe ich meinen eigenen Berufswunsch, oder den von jemand anderem?“

Solchen Motiven zu folgen, kann vielversprechend sein: Vielleicht wird der Mann eines Tages erfolgreicher Viehwirt und baut so eine Ruine seiner Familiengeschichte auf. Es gibt aber auch gegenteilige Beispiele: Ein Vater ist als Textil-Designer hochtalentiert, bringt es aber beruflich zu nichts. Es fehlt ihm an Selbstbewusstsein für eine Branche, in der es durchaus auf Ego ankommt. Die Tochter ist ebenfalls talentiert. Aber sie hat das für sie unaussprechbare Gefühl: „Wenn ich beruflich erfolgreich bin, steht mein Vater noch mehr als Loser da.“ Da sie ihren Vater liebt, muss sie den eigenen beruflichen Erfolg unbedingt verhindern. Irgendwie manövriert sie sich immer wieder in beruflich aussichtlose Situationen.

In solchen Fällen hilft es nichts, den Grund für das eigene Versagen im Äußeren zu suchen. Eine dunkle Linie ist stärker als jede „Situation auf dem Arbeitsmarkt.“ Man kann nur seine Taschenlampe einpacken, tiefer graben und mehr darüber herausfinden, wie man tatsächlich zu seinem Beruf gekommen ist. Damit wird der Blick klarer dafür, welcher Beruf viel besser zu einem passen könnte.